Basiskonzepte im Geographieunterricht: Professionalisierung durch „fachliche Brillen“ und neue Lernräume mit The Legend of Zelda: Breath of the Wild
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Geographie als Unterrichtsfach ist in besonderem Maße damit befasst, komplexe Mensch-Umwelt-Zusammenhänge verständlich zu machen. Themen wie der anthropogene Klimawandel, der weltweite Ressourcenverbrauch, das rasante Bevölkerungswachstum, die zunehmende Urbanisierung oder der Verlust biologischer Vielfalt prägen die Gegenwart der Schüler*innen, gleichzeitig gehören sie zu den größten globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Diese Themen zeichnen sich durch eine enorme „faktische Komplexität“ aus (Bögeholz & Barkmann, 2005), weil sie auf hochdifferenzierten Systemen beruhen, in denen Wechselwirkungen oft mehrdimensional und rückgekoppelt ablaufen (Rempfler & Uphues, 2011). Für Lehrkräfte stellt sich daher die zentrale Frage: Wie lassen sich solche Phänomene im Unterricht so strukturieren, dass Schüler*innen sie nicht nur oberflächlich wiedergeben, sondern wirklich verstehen, einordnen und kritisch reflektieren können?
Basiskonzepte als „fachliche Brillen“
Genau an dieser Stelle kommen die geographischen Basiskonzepte ins Spiel. Sie fungieren als „fachliche Brillen“ (Radl, 2016), mit deren Hilfe es möglich wird, die unübersichtliche Vielschichtigkeit der Welt zu ordnen und didaktisch zu fokussieren. Im professionellen Geographieunterricht übernehmen Basiskonzepte daher eine Doppelfunktion: Zum einen strukturieren sie die Unterrichtsplanung und helfen Lehrkräften, zentrale Fragen von Randaspekten zu unterscheiden. Zum anderen befähigen sie Schüler*innen, Schritt für Schritt ein konzeptionelles Verständnis aufzubauen – also im Sinne von Jackson (2006) ein thinking geographically zu entwickeln. Basiskonzepte sind somit nicht bloß ein Hilfsmittel, sondern der Schlüssel, um Geographie als Fach des 21. Jahrhunderts (Hoffmann, 2019) wirksam und nachhaltig zu unterrichten.
Lebensweltbezug und Motivation
Damit diese Basiskonzepte aber nicht abstrakt bleiben, sondern von Schüler*innen auch wirklich verstanden werden, ist es notwendig, sie an lebensweltnahe Kontexte zu binden. Zahlreiche Studien zeigen, dass Motivation und Identifikation steigen, wenn Unterricht an Erfahrungen der Lernenden anschließt. Ein besonders naheliegender Zugang ist dabei das digitale Spielen: Laut aktuellen Untersuchungen haben rund die Hälfte aller Kinder ab dem sechsten Lebensjahr regelmäßigen Kontakt mit Videospielen. Diese virtuelle Erfahrungswelt ist längst fester Bestandteil ihrer Alltagskultur. Ein modernes Fach wie Geographie kann und sollte diese Alltagskultur produktiv aufgreifen, anstatt sie zu ignorieren.
Open-World-Spiele als geographisches Labor
Digitale Spiele bieten hierfür sogar ein besonders reiches Potenzial. Während Klassiker wie Minecraft oder SimCity bereits punktuell im Unterricht erprobt werden, eröffnet vor allem das Genre der Open-World-Spiele neue didaktische Möglichkeiten. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass Spieler*innen sich frei in einer virtuellen Welt bewegen, Entscheidungen treffen und mit einer Vielzahl an ökologischen, ökonomischen und sozialen Strukturen interagieren können. Damit erzeugen sie ein hohes Maß an Komplexität und zugleich eine Art geographisches Labor, in dem Zusammenhänge erfahrbar gemacht werden, ohne dass reale Konsequenzen drohen.
Beispiel: Hyrule als Lernraum
Ein herausragendes Beispiel ist The Legend of Zelda: Breath of the Wild (Nintendo, 2017). Das Spiel führt Spielerinnen in eine detailreiche Welt namens Hyrule, die von klimatischen Extremen, vielfältigen Landschaftsformen, politischen Teilräumen und knappen Ressourcen geprägt ist. Spielerinnen müssen dort ständig Entscheidungen treffen, die ihr Überleben sichern: Soll Holz zum Kochen oder als Baumaterial genutzt werden? Welche Route ist bei Gewitter sicher? Wie lassen sich die unterschiedlichen Regionen mit ihren Bewohner*innen verknüpfen? In diesen Situationen spiegeln sich die zentralen Basiskonzepte der Geographie wider – ob als Raumkonzepte, Maßstabsebenen, Mensch-Umwelt-Beziehungen oder das Nachhaltigkeitsviereck.
Damit bietet Breath of the Wild einen doppelten Mehrwert für die Unterrichtspraxis: Erstens können Schülerinnen die abstrakten Basiskonzepte an einer für sie hochgradig motivierenden Erfahrungswelt nachvollziehen. Zweitens eröffnet das Spiel Lehrkräften die Möglichkeit, komplexe geographische Fragestellungen anhand einer vertrauten, anschaulichen und gleichzeitig didaktisch ergiebigen Fallstudie zu behandeln. Open-World-Spiele wie Zelda machen sichtbar, dass Basiskonzepte nicht nur im Schulbuch, sondern auch im digitalen Alltag der Schülerinnen lebendig werden – und genau hier liegt das Potenzial für einen modernen, professionellen Geographieunterricht.
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Nachdem in der Einleitung die Bedeutung der geographischen Basiskonzepte als „fachliche Brillen“ herausgestellt wurde, soll nun das erste dieser Konzepte – die Raumkonzepte – im Detail betrachtet werden. Für den Geographieunterricht bilden sie eine unverzichtbare Grundlage, um Schüler*innen dabei zu unterstützen, Raum nicht als statische Fläche oder „Container“ zu begreifen, sondern als ein komplexes Konstrukt, das physische Gegebenheiten, individuelle Wahrnehmungen, funktionale Beziehungen und soziale Zuschreibungen miteinander verbindet. Gerade Open-World-Spiele wie The Legend of Zelda: Breath of the Wild eignen sich in besonderem Maße, diese unterschiedlichen Raumvorstellungen anschaulich, motivierend und zugleich kritisch zu vermitteln.
Theorie der Raumkonzepte – vier komplementäre Brillen
Die Geographiedidaktik unterscheidet in der Regel vier zentrale Perspektiven auf Raum:
Raum als Container – als physischer, naturgeographisch bestimmter Ausschnitt der Erdoberfläche.
Raum als Wahrnehmungsraum – als subjektiv erfahrene und mental kartierte Umwelt.
Raum als Beziehungsraum – als funktionales Netzwerk von Verkehrswegen, Stoff- und Warenflüssen, Kommunikationsbeziehungen und politischen Verflechtungen.
Raum als soziale und kulturelle Konstruktion – als Resultat von Normen, Symbolen, Narrativen und Machtstrukturen.
Diese vier Brillen sind keine Gegensätze, sondern komplementäre Deutungsangebote. Jede rückt andere Aspekte desselben Phänomens ins Zentrum. Für den Unterricht bedeutet das: Schüler*innen sollen nicht nur eine Brille aufsetzen, sondern lernen, Räume multiperspektivisch zu betrachten und die Unterschiede zwischen Container-, Wahrnehmungs-, Beziehungs- und Konstruktionslogik selbst herauszuarbeiten.
Spielanalyse: Hyrule durch die Raumkonzepte betrachtet
Raum als Container
Die Spielwelt von Breath of the Wild ist eine digital konstruierte Landschaft, die in klar voneinander abgegrenzte Regionen eingeteilt ist:
Hebra-Gebirge im Nordwesten: ein Hochgebirge mit Schnee, Gletschern und eisigen Temperaturen. Wer sich hier ohne Winterkleidung oder Wärmetrank bewegt, erfriert.
Eldin-Region rund um den Todesberg: ein aktiver Vulkan, an dem glühende Lava fließt und ohne Hitzeschutz Ausrüstung sofort Feuer fängt.
Gerudo-Wüste im Südwesten: tagsüber glühend heiß, nachts eisig kalt. Nur mit spezieller Kleidung oder Elixieren kann man überleben.
Faron-Region im Südosten: tropisch-feucht, mit üppigen Regenwäldern, Wasserfällen und einer üppigen Flora und Fauna.
Hyrule-Ebene im Zentrum: fruchtbare Ackerflächen und Wiesen, von Flüssen durchzogen, historisch Zentrum des Königreichs.
Küsten und Inseln, die durch Meeresklima und maritime Ressourcen geprägt sind.
Eine Schlüsselmechanik: die Sheikah-Türme. Nur wenn Spieler*innen diese erklimmen, werden Kartenabschnitte aufgedeckt. Das ist eine direkte Analogie zur Vermessung und Kartographie: Karten sind nicht „einfach da“, sondern entstehen durch aktive Erkundung, Technik und Arbeit.
Didaktischer Wert: Schüler*innen erkennen, dass Naturausstattung Handlungsmöglichkeiten strukturiert: Klima, Relief und Ressourcen setzen Grenzen und eröffnen Chancen – genauso wie in realen Räumen.
Raum als Wahrnehmungsraum
Neben objektiven Naturräumen spielt die subjektive Erfahrung eine zentrale Rolle.
Zu Beginn wirkt Hyrule überwältigend groß. Viele Spieler*innen verirren sich, meiden gefährliche Gebiete und bewegen sich anfangs nur in bekannten Umgebungen.
Mit der Zeit entstehen mentale Karten: Landmarken wie die markanten Zwillingsberge, Schloss Hyrule oder große Seen helfen bei der Orientierung. Distanzen erscheinen kürzer, weil Spieler*innen Abkürzungen und sichere Routen verinnerlichen.
Emotionen prägen Wahrnehmung: Ein Wald, in dem man mehrmals von Monstern überfallen wurde, bleibt subjektiv „gefährlich“. Ein Dorf, in dem man kochen, rasten und einkaufen kann, wird als „sicher“ wahrgenommen.
Besonders interessant: der „Pfad des Helden“ (Download-Inhalt). Diese Funktion zeichnet alle Schritte der Spieler*innen auf und zeigt, welche Regionen intensiv genutzt, welche kaum betreten wurden. Hier wird sichtbar, dass subjektive Nutzungsmuster Räume ganz anders „strukturieren“ als topographische Karten.
Didaktischer Wert: Schüler*innen verstehen, dass Raumwahrnehmung immer subjektiv ist und von Erfahrung, Emotion und Erinnerung geprägt wird.
Raum als Beziehungsraum
Hyrule ist nicht nur ein Nebeneinander von Regionen, sondern durch funktionale Netzwerke verbunden:
Straßen und Brücken verbinden die großen Regionen. Wer sich an die Wege hält, bewegt sich sicherer und trifft Reisende, Händler*innen oder Wachen.
Pferdeställe sind über das ganze Land verteilt. Sie liegen strategisch an Übergängen zwischen Regionen und fungieren als Versorgungs- und Logistikknoten.
Teleportpunkte (Schreine) schaffen ein alternatives Mobilitätsnetz: Mit ihnen können Spieler*innen Entfernungen überbrücken und Zeit verkürzen – ähnlich wie Flughäfen im realen Weltverkehr.
Hydrologische Netze: Wasserläufe verbinden Gebirge, Täler und Landwirtschaftsflächen. Flüsse transportieren Schmelzwasser aus dem Hochgebirge und sichern Ernährungssicherheit im Tiefland.
Politische und ökonomische Netze: Regionen wie die Gerudo-Wüste, die Goronen-Stadt oder das Zora-Reich sind kulturell eigenständig, aber im Überlebenskampf gegen den Endgegner Ganon auf Allianz und Austausch angewiesen.
Didaktischer Wert: Schüler*innen können funktionale Raumvernetzungen nachvollziehen und Parallelen zu realen Infrastrukturen, Handelsrouten oder politischen Allianzen ziehen.
Raum als soziale Konstruktion
Besonders deutlich wird in Hyrule, dass Räume nicht „neutral“ sind, sondern durch soziale Regeln, Narrative und Machtverhältnisse definiert werden:
Gerudo-Stadt: Nur Frauen (vai) dürfen eintreten. Männer (voe) müssen draußen bleiben. Dieser Raum ist also durch Geschlechterrollen und Exklusion sozial codiert.
Schloss Hyrule: Nach der Katastrophe zerstört, bleibt es Symbol politischer Macht und kollektiver Erinnerung. Es ist weniger „ein Gebäude“ als vielmehr ein Erinnerungsort (lieu de mémoire).
Tarrey Town: Ein Ort, den Spielerinnen im Spiel mitgestalten. Durch Migration von Handwerkerinnen verschiedener Völker, durch Arbeitsteilung und Kooperation wächst ein neuer urbaner Raum – ein Prozess der Raumproduktion in Echtzeit.
Wald der Krogs: Dieser Wald ist nicht nur Vegetation, sondern mythisch aufgeladen. Er wird erst durch Rätsel, Symbole und Geschichten zum „heiligen Ort“.
Didaktischer Wert: Schüler*innen lernen, dass Räume durch kulturelle Bedeutungen und soziale Praktiken geprägt sind – ein Ansatzpunkt für Diskussionen über Stadtentwicklung, Exklusion oder Erinnerungskultur.
Didaktische Umsetzung: Aufgaben für den Unterricht
Containerraum (AB I/II)
Beschreibe mithilfe einer Ingame-Karte die Naturräume Hyrules (Gebirge, Ebenen, Wüsten, Küsten). Erkläre, wie Klimaextreme (Hitze, Kälte, Gewitter) die Handlungsmöglichkeiten von Link einschränken oder erweitern.Wahrnehmungsraum (AB II)
Erläutere deine eigene mentale Karte von Hyrule: Welche Orte erscheinen dir groß, gefährlich, sicher oder vertraut? Vergleiche deine subjektive Wahrnehmung mit einer vollständigen topographischen Karte.Beziehungsraum (AB II/III)
Analysiere das Verkehrs- und Versorgungsnetz Hyrules (Straßen, Ställe, Schreine). Bewerte, welche Orte als zentrale Knotenpunkte fungieren, und begründe, wie diese Netzwerke das Leben der Bewohner*innen prägen.Raum als Konstruktion (AB III)
Analysiere die Zugangsregeln von Gerudo-Stadt und erörtere, wie soziale Normen und Narrative den Raum prägen. Ziehe Parallelen zu realen Beispielen von Exklusion (z. B. Clubs, religiöse Räume, politische Grenzen).
Meta-Kommentar für Lehrkräfte
Fehlvorstellung „Raum = Container“: Schüler*innen reduzieren Raum häufig auf Naturausstattung. Breath of the Wild zeigt, dass Räume durch Wahrnehmung, Netzwerke und Narrative viel komplexer sind.
Karten als „neutrale Abbilder“: Sheikah-Türme zeigen: Karten entstehen erst durch Arbeit, Technik und Macht – eine wichtige Erkenntnis für kritische Kartographie.
Wahrnehmung unterschätzt: Der „Pfad des Helden“ verdeutlicht, dass subjektive Nutzungsmuster Raumwahrnehmung stärker prägen als objektive Geodaten.
Soziale Neutralität: Gerudo-Stadt belegt, dass Räume durch Regeln und Normen geformt werden – ein Türöffner für Diskussionen über Identität, Macht und Gerechtigkeit.
👉 Didaktischer Tipp: Lass Schüler*innen ein und denselben Raum (z. B. die Gerudo-Wüste oder Tarrey Town) nacheinander durch alle vier Brillen betrachten. So wird Multiperspektivität nicht abstrakt erklärt, sondern konkret erlebt.
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Dieses Konzept ist für den Unterricht besonders bedeutsam, weil es Schüler*innen befähigt, Phänomene nicht isoliert zu betrachten, sondern sie in unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Dimensionen einzuordnen. Gerade in einer globalisierten Welt, in der lokale Ereignisse weltweite Folgen haben können, ist die Fähigkeit zum „Skalensprung“ (scale jumping) eine zentrale Kompetenz.
Theorie: Maßstabsebenen und Zeithorizonte
Unter Maßstabsebenen versteht die Geographiedidaktik verschiedene räumliche Analyseebenen – vom Lokalen über das Regionale bis hin zum Globalen. Sie verdeutlichen, dass jedes Phänomen auf mehreren räumlichen Ebenen betrachtet werden kann, die sich wechselseitig beeinflussen.
Zeithorizonte beziehen sich auf die Frage, über welchen Zeitraum hinweg ein Prozess oder Ereignis zu betrachten ist. Manche Entwicklungen sind nur kurzfristig sichtbar, andere entfalten ihre Wirkung erst über Jahrhunderte hinweg.
Für Schüler*innen bedeutet dieses Basiskonzept: Sie lernen, dass ein Waldbrand nicht nur eine lokale Katastrophe ist, sondern auch regionale ökonomische Folgen und globale klimatische Implikationen hat. Ebenso erkennen sie, dass ein scheinbar „zeitloser“ Naturraum wie ein Gebirge durch geologische, klimatische oder kulturelle Prozesse historisch gewachsen ist und sich ständig verändert.
Spielanalyse: Maßstabsebenen und Zeithorizonte in Hyrule
Die Spielwelt von The Legend of Zelda: Breath of the Wild bietet eine Fülle an Beispielen, um dieses Basiskonzept plastisch zu machen.
Maßstabsebenen im Spiel
Lokal: Wenn Link ein Dorf wie Hateno besucht, treten alltägliche Fragen in den Vordergrund: Welche Berufe haben die Bewohner*innen? Wie organisieren sie ihre Landwirtschaft oder ihr Handwerk? Welche Infrastruktur ermöglicht ihr Leben? Hateno etwa ist ein lokales Agrardorf mit eigenem Markt, kleinteiliger Architektur und Dorfalltag.
Regional: Über das Lokale hinaus wird deutlich, dass die Dörfer in größere Regionen eingebettet sind – das Goronen-Gebiet am Vulkan Eldin, die Wüstenstadt der Gerudo, das Rito-Dorf in den Schneebergen oder das Wasserreich der Zoras. Jede Region hat ihr eigenes Klima, ihre Ressourcen, ihre Bauweise und ihre sozialen Regeln. Erst in der Zusammenschau dieser Regionen wird die Diversität Hyrules sichtbar.
Überregional / Global: Schließlich zeigt sich, dass alle diese Räume Teil eines größeren politischen und ökologischen Systems sind: Die Katastrophe Ganon bedroht Hyrule als Ganzes. Entscheidungen im Lokalen – ob man etwa einem Dorf bei der Nahrungsversorgung hilft – haben Konsequenzen für die gesamte Spielwelt. Auch Handelsbeziehungen oder die Allianz der vier Völker gegen Ganon verdeutlichen die globale Dimension.
Damit lernen Schüler*innen: Das Lokale kann nie ohne das Regionale und Globale verstanden werden – und umgekehrt.
Zeithorizonte im Spiel
Auch zeitliche Dimensionen sind in Breath of the Wild auf besondere Weise präsent:
Kurzfristig: Wetterwechsel beeinflussen unmittelbar die Handlungsmöglichkeiten. Ein Gewitter zwingt Spieler*innen, metallische Waffen abzulegen; ein plötzlicher Temperatursturz macht bestimmte Routen unpassierbar. Solche Ereignisse zeigen, wie stark kurzfristige Dynamiken Raumwahrnehmung verändern.
Mittelfristig: Bauprojekte wie Tarrey Town entwickeln sich über die Dauer des Spiels. Anfangs besteht nur ein Fundament, später wächst durch Migration, Handel und Arbeitsteilung ein neuer Ort. Schüler*innen können so nachvollziehen, wie mittelfristige Prozesse Landschaften und Gesellschaften verändern.
Langfristig: Die Legenden Hyrules thematisieren Entwicklungen über Jahrhunderte. Die Zerstörung durch Ganon, die Ruinen alter Zivilisationen oder die Erinnerungskultur an die „Recken“ zeigen, dass Räume historisch geprägt sind. Hyrule ist nicht einfach „da“, sondern Ergebnis historischer Prozesse – genau wie reale Kulturlandschaften.
Damit macht das Spiel sichtbar, dass sich geographische Phänomene nur dann verstehen lassen, wenn man Zeitdimensionen bewusst einbezieht.
Didaktische Umsetzung: Aufgaben für den Unterricht
Um Schüler*innen die Arbeit mit Maßstabsebenen und Zeithorizonten erfahrbar zu machen, können folgende Aufgabenstellungen entwickelt werden
Beschreibe die Unterschiede zwischen einem Dorf (z. B. Hateno), einer Region (z. B. Eldin-Gebirge) und der gesamten Spielwelt Hyrule. Stelle dar, welche natürlichen und kulturellen Merkmale auf welcher Maßstabsebene sichtbar werden.
Analysiere die Entwicklung von Tarrey Town im Spielverlauf und ordne sie verschiedenen Zeithorizonten zu. Begründe, welche Prozesse kurzfristig, mittelfristig oder langfristig wirksam sind.
Vergleiche die Rolle von Wetterereignissen im Spiel mit realen Beispielen (z. B. Überschwemmungen, Dürren, Wintereinbrüche). Diskutiere, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen.
Beurteile, warum es im Kampf gegen Ganon notwendig ist, dass alle Regionen Hyrules zusammenarbeiten. Welche Lehren lassen sich für reale globale Herausforderungen (z. B. Klimawandel) ziehen?
Metakommentar:
Fachdidaktisch verdeutlicht er, wie abstrakte Konzepte wie Maßstabsebenen und Zeithorizonte konkret operationalisiert und im Unterricht verankert werden können.
Spielanalytisch zeigt er, wie digitale Welten nicht nur „Unterhaltung“, sondern auch Modelle komplexer Wirklichkeiten sind, die Schüler*innen motivieren und zum Perspektivwechsel anregen.
Bildungstheoretisch sensibilisiert er dafür, dass Lernende durch skalierende und zeitliche Perspektiven ein tieferes Verständnis von Globalisierung, Nachhaltigkeit und historischer Entwicklung erwerben – Kompetenzen, die weit über das Schulfach hinausweisen.
Damit wird Breath of the Wild zu einem didaktischen Labor, in dem Schüler*innen lernen, vom Lokalen bis zum Globalen und vom Momentanen bis zum Historischen zu denken.
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Nachdem die Raumkonzepte als erste geographische „Brille“ vorgestellt und anhand von Breath of the Wild differenziert analysiert wurden, lässt sich nun das Basiskonzept der Mensch–Umwelt-Beziehungen in den Blick nehmen. Dieses Konzept ist für den Geographieunterricht besonders bedeutsam, weil es die Wechselwirkungen zwischen natürlichen Gegebenheiten und menschlichem Handeln systematisch strukturiert. Während Umwelt für viele Schülerinnen im Alltag eher als statischer Hintergrund erscheint, verdeutlicht die geographiedidaktische Perspektive, dass Mensch und Umwelt in einem dynamischen, zirkulären Verhältnis stehen. Hier greifen zentrale Denkfiguren wie Wechselwirkung, Rückkopplung, Resilienz und Tragfähigkeit (Rempfler & Uphues, 2011). Lehrkräfte können dieses Basiskonzept nutzen, um Schülerinnen für die Komplexität solcher Systeme zu sensibilisieren und Fehlvorstellungen zu vermeiden, die auf linearen Ursache-Wirkung-Denken beruhen.
Spielanalyse: Hyrule als Mensch–Umwelt-System
Die virtuelle Welt Hyrule eignet sich hervorragend, um diese Dynamik zu veranschaulichen, weil Spieler*innen dort ständig gezwungen sind, mit Umweltbedingungen zu interagieren und auf sie zu reagieren.
Anpassung an Klimaextreme: In den schneebedeckten Hebra-Bergen erfrieren Spieler*innen ohne Winterkleidung, während im Eldin-Vulkanmassiv ohne Hitzeschutz der sofortige Tod droht. Auch in der Gerudo-Wüste wechseln die Gefahren zwischen sengender Hitze am Tag und klirrender Kälte bei Nacht. Diese Mechaniken machen unmittelbar erfahrbar, dass Umweltbedingungen Handlungsmöglichkeiten vorstrukturieren – genau wie in der Realität, wo Bauweisen, Kleidung oder Arbeitszeiten in Abhängigkeit von Klima gestaltet werden müssen.
Ressourcennutzung und Tragfähigkeit: Holz, Wild, Mineralien oder Pflanzen stehen zur Verfügung, sind aber nicht unbegrenzt. Fällst du zu viele Bäume, sind sie für eine Zeit nicht mehr verfügbar; jagst du zu viel Wild, bleiben die Wälder leer. Im Spiel regenerieren sich diese Ressourcen vergleichsweise schnell – eine Entscheidung der Entwicklerinnen, um Spielfluss und Motivation zu erhalten. Didaktisch eröffnet sich hier eine wichtige Chance: Schülerinnen lernen, dass digitale Spielwelten vereinfachen, und können mit der Realität verglichen werden, in der Regeneration oft Jahrzehnte dauert. Damit lassen sich Fehlvorstellungen (Conceptual Change) gezielt ansprechen.
Technologie und Umweltzerstörung: Die Hintergrundgeschichte Hyrules erzählt, wie einst geschaffene Technologien – die Wächter und die Titanen – außer Kontrolle gerieten und schließlich die Welt verwüsteten. Damit liefert das Spiel eine narrative Chiffre für Technikfolgenabschätzung: Schutz und Fortschritt können kippen, wenn Technik nicht verantwortungsvoll eingesetzt wird. Dieser Aspekt eignet sich als Brücke, um reale Themen wie Energiepolitik oder Klimaschutz zu thematisieren.
Soziale Abhängigkeit von Ökosystemen: Jede Kultur Hyrules ist eng an eine Umwelt gebunden: Die Zora leben am Wasser, die Gerudo in der Wüste, die Goronen am Vulkan und die Rito in luftigen Höhen. Ihre Lebensweise, Architektur und Ökonomie sind Ausdruck dieser Abhängigkeit. Spieler*innen erkennen daran, dass Gesellschaften nicht beliebig siedeln, sondern in ökologischen Rahmenbedingungen verankert sind – ein direktes Abbild realer Mensch–Umwelt-Kopplungen.
So wird Hyrule zu einem Modell für ein komplexes Mensch–Umwelt-System, in dem jede Entscheidung (Holzfällung, Jagd, Ausrüstungswahl) Rückwirkungen hat – eine Erfahrung, die sich in der Realität etwa beim Thema Klimaanpassung oder Ressourcenmanagement widerspiegelt.
Didaktische Umsetzung: Von der Spielmechanik zur Realität
Für die Unterrichtspraxis lassen sich diese Mechaniken in mehrfacher Hinsicht produktiv aufbereiten:
Systemisches Denken fördern: Schüler*innen können Concept-Maps erstellen, die die Wechselwirkungen zwischen Klima, Anpassung, Ressourcennutzung und sozialen Strukturen in Hyrule darstellen. So wird deutlich: Eine Handlung wirkt nie isoliert, sondern verknüpft mehrere Dimensionen.
Fehlvorstellungen vermeiden (Conceptual Change): Viele Schüler*innen glauben, Natur regeneriere sich „von selbst“ und „schnell“. Indem man die Ressourcenerneuerung in Zelda (Bäume nach wenigen Tagen) mit realen Regenerationsprozessen (Wälder: Jahrzehnte bis Jahrhunderte) vergleicht, kann diese Fehlvorstellung gezielt korrigiert werden.
Realbezug herstellen: Situationen im Spiel (z. B. Anpassung an Hitze oder Kälte) lassen sich mit realen Phänomenen verknüpfen: Bau von Häusern in Hochwassergebieten, Hitzeschutzpläne in Städten, Nutzung von Kleidung und Technik zur Anpassung an extreme Wetterlagen.
Multimedial arbeiten: Screenshots oder kurze Videoclips, die z. B. zeigen, wie Link im Schneesturm erfriert oder wie er mit Spezialrüstung am Vulkan überlebt, können als Unterrichtsimpuls dienen. Schüler*innen beobachten, beschreiben und vergleichen diese Szenen mit realen Mensch–Umwelt-Interaktionen.
Beispielaufgaben (NRW-Operatoren)
Beschreibe die Anpassungsstrategien von Link in unterschiedlichen Klimazonen und erkläre, warum sie im Spiel überlebensnotwendig sind.
Analysiere die Ressourcennutzung in Hyrule (Holz, Tiere, Mineralien) und beurteile, welche Parallelen und Unterschiede zu realen Nachhaltigkeitsproblemen bestehen.
Vergleiche die Darstellung der Ressourcenerneuerung im Spiel mit realen ökologischen Prozessen und diskutiere, welche Fehlvorstellungen daraus entstehen können.
Erörtere, wie die Kulturen der Zora, Goronen, Rito und Gerudo durch ihre Umweltbedingungen geprägt sind, und ziehe Parallelen zu realen Gesellschaften in ähnlichen Naturräumen.
Meta-Kommentar für Lehrkräfte
Für die Professionalisierung von Geographielehrkräften liegt hier der Mehrwert darin, dass Schülerinnen durch das Spiel nicht nur Inhalte reproduzieren, sondern Mensch–Umwelt-Beziehungen selbst erfahren – mit allen didaktischen Chancen und Risiken. Lehrkräfte können diese Erfahrung gezielt aufgreifen, indem sie Unterschiede zwischen virtueller Vereinfachung und realer Komplexität transparent machen. Damit wird Breath of the Wild zu einem Resonanzraum, in dem Schülerinnen konzeptionelles Denken aufbauen und zugleich kritisch reflektieren, wie digitale Medien Umwelt darstellen. Genau das ist Kern einer professionellen geographischen Bildung: nicht nur zu erklären, sondern Perspektiven zu öffnen, Denken zu schulen und Handlungsoptionen für die Zukunft zu entwickeln.
Struktur, Funktion und Prozess in „Breath of the Wild“ – Hyrule als dynamisches System verstehen
Nach der Analyse der Raumkonzepte rückt nun ein weiteres Basiskonzept in den Fokus: Struktur – Funktion – Prozess. Dieses Konzept gehört zu den tragenden Säulen geographischen Denkens, da es Schüler*innen ermöglicht, komplexe Systeme nicht nur statisch zu betrachten, sondern in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten und in ihrer zeitlichen Dynamik zu erfassen. Während Strukturen die Bausteine eines Systems darstellen, beschreiben Funktionen die jeweiligen Rollen dieser Elemente und Prozesse schließlich deren Veränderungen und Wechselwirkungen im Zeitverlauf.
Gerade The Legend of Zelda: Breath of the Wild bietet ein didaktisch reichhaltiges Lernfeld, um diese Trias konkret und anschaulich zu vermitteln. Denn die Spielwelt Hyrule ist nicht nur als Kulisse gestaltet, sondern als komplexes, interaktives System, in dem Strukturen, Funktionen und Prozesse untrennbar ineinandergreifen.
Strukturen: Landschaft, Bauwerke und Knotenpunkte
Zu den zentralen Strukturen Hyrules zählen die deutlich unterscheidbaren Landschaftszonen: die schneebedeckten Hebra-Berge, die vulkanische Eldin-Region, die wasserreiche Ebene der Zoras oder die aride Gerudo-Wüste. Diese Naturräume wirken als Container, die zugleich spezifische Spielmechaniken erfordern – etwa Hitzeschutz im Vulkan oder Kälteschutz im Gebirge.
Darüber hinaus prägen auch menschengemachte Strukturen die Welt. Besonders aufschlussreich sind die Sheikah-Türme und Schreine: Erst wenn Spieler*innen diese erklimmen und aktivieren, wird ein Kartenausschnitt sichtbar. Damit simuliert das Spiel eine Form der „Landesvermessung“, die verdeutlicht, dass Karten nie „gegeben“ sind, sondern Ergebnis technischer und kultureller Arbeit. Die über 120 Schreine sind zugleich Prüfungsräume, Orientierungspunkte und Teleportstationen. Für die Systemanalyse bedeutet das: Sie sind sowohl kulturell aufgeladene Orte als auch Knoten in einem Mobilitätsnetzwerk – eine Art parallele Infrastruktur neben Straßen, Brücken und Ställen.
Funktionen: Mehrfachcodierung von Ressourcen
Ein zentrales Lehrstück in Breath of the Wild ist, dass kaum ein Objekt nur eine einzige Funktion hat. Pflanzen sind Nahrung, Heilmittel, Elixier-Zutaten und Handelsware zugleich. Holz kann als Brennmaterial, als Baumaterial oder als improvisierte Brücke genutzt werden. Mineralien dienen einerseits als ökonomisches Kapital im Handel, andererseits als Grundlage für Waffen- und Rüstungsbau. Selbst Monsterteile, die zunächst als „Abfall“ erscheinen, haben vielfältige Funktionen: Sie sind Zutaten für Tränke, Material für Rüstungsupgrades und Handelsgut.
Nintendo hat diese Mehrfachcodierung bewusst eingebaut: Sie zwingt Spieler*innen dazu, kontextabhängig zu entscheiden, wie eine Ressource genutzt wird. Didaktisch lässt sich hier verdeutlichen, dass Funktionen nie absolut sind, sondern durch Bedürfnisse, Kontexte und Entscheidungen bestimmt werden – eine Parallele zu realen Mensch-Umwelt-Systemen.
Prozesse: Dynamik, Kreisläufe und Interaktionen
Besonders faszinierend wird Hyrule, wenn man die Prozesse betrachtet, die das Spielgeschehen strukturieren.
Wachstums- und Regenerationsprozesse: Pflanzen wachsen nach, Tiere erscheinen erneut, Mineralien regenerieren sich – jedoch mit zeitlicher Verzögerung. Spieler*innen erleben so Kreisläufe, die nachhaltige Ressourcennutzung erfordern.
Der Blutmond: In zyklischen Abständen kehrt der „Blutmond“ zurück und setzt alle besiegten Gegner*innen wieder ein. Damit erhält die Welt eine narrative Erklärung für ihr „Reset-System“ und wird zugleich dynamisch.
Elementare Prozesse: Feuer breitet sich über Grasflächen aus, Wind treibt Flammen weiter, Regen löscht Brände. Diese physikalischen Simulationen machen ökologische Interaktionen unmittelbar erfahrbar.
Diese Mechaniken illustrieren eindrücklich, dass Prozesse Räume formen – sie verändern Handlungsmöglichkeiten, erzeugen Rhythmen und verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Didaktische Umsetzung: Aufgaben für den Unterricht
Strukturen beschreiben: Beschreibe die zentralen Landschaftszonen Hyrules mithilfe einer Spielkarte und erläutere, welche naturräumlichen Strukturen (z. B. Gebirge, Wüste, Küsten) für die Handlungsmöglichkeiten besonders prägend sind.
Funktionen analysieren: Analysiere die Nutzungsmöglichkeiten von Ressourcen wie Holz, Mineralien oder Pflanzen und bewerte, wie sich ihre Mehrfachfunktionen auf das Handeln der Spieler*innen auswirken.
Prozesse erklären: Erkläre, welche Rolle der Blutmond für das Spielsystem spielt, und ordne ihn in den Zusammenhang zyklischer Prozesse ein.
Systemdenken anwenden: Erörtere, wie Strukturen, Funktionen und Prozesse in Hyrule zusammenwirken, und vergleiche dies mit einem realen Mensch-Umwelt-System deiner Wahl (z. B. Alpen, Sahara, Flusseinzugsgebiet).
Meta-Kommentar für die Professionalisierung
Für die Professionalisierung von Geographielehrerinnen wird hier deutlich: Breath of the Wild simuliert Welt nicht als lineare Abfolge von Aufgaben, sondern als vernetztes System. Strukturen (Landschaften, Bauwerke), Funktionen (Ressourcen, Netzwerke) und Prozesse (Kreisläufe, Dynamiken) sind im Spiel so miteinander verschränkt, dass Schülerinnen die Basiskonzepte nicht nur kognitiv nachvollziehen, sondern praktisch „durchspielen“ können. Genau darin liegt das didaktische Potenzial: Das Spiel bietet ein niedrigschwelliges, motivierendes, zugleich aber hochkomplexes Modell, um Systemdenken einzuüben – eine Schlüsselkompetenz für den modernen Geographieunterricht.
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Das Basiskonzept Nachhaltigkeitsviereck gilt in der Geographiedidaktik als zentrales Werkzeug, um komplexe Mensch–Umwelt-Beziehungen nicht nur ökologisch, sondern auch in ihren ökonomischen, sozialen und politischen Dimensionen zu analysieren. Ziel ist es, Schüler*innen ein multiperspektivisches Denken zu ermöglichen: Statt Natur allein als Ressource zu sehen, sollen sie die Zusammenhänge zwischen ökologischen Belastungsgrenzen, ökonomischen Interessen, sozialen Strukturen und politischen Machtfragen verstehen. Gerade The Legend of Zelda: Breath of the Wild eignet sich hierfür, da es diese vier Dimensionen in seiner Spielwelt Hyrule auf vielschichtige Weise miteinander verknüpft – und dabei ambivalente Botschaften sendet, die sich kritisch hinterfragen lassen.
Ökologische Dimension – Natur zwischen harmonischem Lebensraum und kolonialer Ausbeutungsressource
In Hyrule erleben Spieler*innen Natur unmittelbar als begrenzenden und strukturierenden Faktor. Unterschiedliche Klimazonen – von der glühend heißen Eldin-Vulkanregion über die eisigen Hebra-Berge bis zur trockenen Gerudo-Wüste – zwingen zur Anpassung. Wer sich unvorbereitet bewegt, stirbt an Hitze oder Kälte. Damit wird spielerisch verdeutlicht, dass Ökosysteme Handlungsspielräume vorgeben und dass Anpassung eine Frage des Überlebens ist.
Gleichzeitig können Spieler*innen nahezu alle Elemente der Umwelt nutzen: Holz wird durch Fällen von Bäumen gewonnen, Tiere lassen sich jagen, Mineralien abbauen, Pflanzen sammeln. Wälder regenerieren zwar, doch nur mit zeitlicher Verzögerung – wodurch ein Bewusstsein für die Begrenztheit ökologischer Ressourcen entsteht.
Hier zeigt sich jedoch eine Ambivalenz: Das Spiel lädt systematisch dazu ein, Natur als Ressourcenspeicher auszubeuten. Negative Konsequenzen wie Bodenerosion, Artensterben oder Walddegradation treten nicht sichtbar ein. Damit wird implizit eine kolonialistische Logik von „Natur als zu erschließendem Rohstofflager“ reproduziert. Gleichzeitig inszeniert das Spiel Natur aber auch als eigenständige Akteurin: Gewitter, Lawinen, Waldbrände oder mystische Räume wie der Krogs-Wald verdeutlichen, dass Natur nicht vollständig verfügbar ist. Diese Spannung zwischen Natur als ausbeutbarer Ressource und Natur als harmonischem oder gar spirituellem Raum macht Breath of the Wild zu einem idealen Ausgangspunkt für kritische Diskussionen.
Ökonomische Dimension – Ressourcenmärkte und Arbeitsteilung
Die ökonomische Dimension zeigt sich besonders in den Waren- und Ressourcenflüssen Hyrules. Händlerinnen ziehen durch das Land, kaufen und verkaufen Waren, Spielerinnen können Rohstoffe veredeln oder weiterverarbeiten. Besonders lehrreich ist Tarrey Town, eine Siedlung, die die Spieler*innen selbst im Verlauf des Spiels durch das Anwerben von Arbeitskräften und die Beschaffung von Ressourcen aufbauen. Hier werden Migration, Spezialisierung und Arbeitsteilung sichtbar: Ein Steinmetz aus Goronen-Stadt, ein Schneider aus der Gerudo-Wüste, ein Kaufmann aus Hateno – alle tragen zur Entwicklung des neuen Ortes bei.
Doch auch hier lohnt ein kritischer Blick: Die ökonomische Entwicklung in Hyrule blendet ökologische Kosten systematisch aus. Holz wird in großen Mengen eingeschlagen, Mineralien ohne Folgeschäden abgebaut. Damit reproduziert das Spiel eine verkürzte Vorstellung von Ökonomie, in der Wachstum ohne ökologische Grenzen möglich scheint. Für den Unterricht ist dies ein Ansatzpunkt, um über reale Debatten zu Ressourcenknappheit und Externalisierung ökologischer Kosten zu sprechen.
Soziale Dimension – Gemeinschaft, Exklusion und Identität
Hyrule ist von kultureller und sozialer Vielfalt geprägt. Jede Region wird von einer eigenen Kultur dominiert: Die Zora leben im Wasser, die Goronen im Vulkan, die Gerudo in der Wüste, die Rito in den Bergen. Diese Gemeinschaften sind jeweils eng mit ihrem Naturraum verbunden und entwickeln darauf basierende Identitäten und Lebensweisen.
Besonders prägnant ist die Gerudo-Stadt: Sie erlaubt nur Frauen (vai) den Zutritt, Männer (voe) werden ausgeschlossen. Für Spieler*innen bedeutet dies, sich kulturellen Regeln unterordnen zu müssen – erst in Verkleidung gelingt der Zugang. Damit wird Raum hier nicht durch Natur, sondern durch soziale Praktiken produziert.
Zugleich zeigt Tarrey Town, wie durch Zusammenarbeit, Migration und kulturelle Diversität neue Gemeinschaften entstehen können. In einer Welt, die nach der „großen Verheerung“ fragmentiert ist, symbolisiert dieser Ort die Möglichkeit interkultureller Kooperation – ein Gegenbild zu Exklusion und Abgrenzung.
Politische Dimension – Macht, Herrschaft und Kooperation
Politik wird in Breath of the Wild territorial sichtbar. Die Regionen Hyrules sind nach der Zerstörung durch Ganon zunächst autonom und stark auf sich selbst bezogen. Erst durch Allianzen – etwa durch die Befreiung der vier Titanen in Kooperation mit den Goronen, Rito, Zora und Gerudo – entsteht die Möglichkeit, das gemeinsame Ziel zu erreichen: die Rückeroberung Hyrules.
Diese Konstellation macht Machtfragen greifbar: Wer kontrolliert Ressourcen, wer entscheidet über Räume, und wie werden Konflikte gelöst? Auch hier zeigt sich ein didaktischer Mehrwert: Politische Räume sind nicht statisch, sondern Ergebnis von Aushandlungsprozessen. Schüler*innen können so erkennen, dass globale Kooperation (z. B. beim Klimawandel) vergleichbar funktioniert – und zugleich von denselben Schwierigkeiten (Interessen, Machtasymmetrien, Konflikte) geprägt ist.
Didaktische Umsetzung – Aufgabenstellungen für den Unterricht
1. Ökologische Dimension (Operator: erklären/bewerten): Beschreibe die ökologischen Grenzen in Hyrule (z. B. Klimazonen, Naturgefahren) und bewerte, ob das Spiel Natur eher als harmonischen Lebensraum oder als kolonialistisch ausgebeutete Ressource darstellt.
2. Ökonomische Dimension (Operator: analysieren): Analysiere die Entwicklung von Tarrey Town hinsichtlich Migration, Arbeitsteilung und Ressourcenbedarf. Welche ökologischen Kosten werden ausgeblendet, und wie ließen sie sich realistisch darstellen?
3. Soziale Dimension (Operator: erläutern/erörtern): Erläutere die sozialen Regeln in Gerudo-Stadt und erörtere, welche Parallelen zu realen Fragen von Inklusion und Exklusion bestehen.
4. Politische Dimension (Operator: beurteilen): Beurteile die Allianz der Völker Hyrules im Kampf gegen Ganon. Welche Chancen und Probleme ergeben sich aus interregionaler Kooperation – und welche Bezüge lassen sich zur internationalen Klimapolitik ziehen?
Meta-Kommentar zur Professionalisierung
Für die Professionalisierung von Geographielehrerinnen zeigt das Nachhaltigkeitsviereck in Breath of the Wild zwei entscheidende Aspekte: Erstens macht das Spiel die Dimensionen Ökologie, Ökonomie, Soziales und Politik anschaulich und für Schülerinnen greifbar. Zweitens eröffnet es die Möglichkeit, kritische Reflexionen einzubringen – etwa über die kolonialistische Logik, Natur ausschließlich als Rohstofflager zu betrachten, oder über die Ausblendung ökologischer Kosten in ökonomischen Prozessen.
Lehrkräfte können hier gezielt Conceptual Change anstoßen, indem sie Fehlvorstellungen („Natur regeneriert sich unbegrenzt“, „Wirtschaft kann ohne ökologische Kosten wachsen“) aufgreifen und durch Vergleich mit realen Diskursen (Klimakrise, Ressourcengerechtigkeit, Postkolonialismus) dekonstruieren. Breath of the Wild wird damit nicht nur zu einem motivierenden Einstieg, sondern zu einem hochaktuellen Lernlabor für kritische, nachhaltigkeitsorientierte Geographiebildung.
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Theorie: Kultur der Digitalität und Bildung im 21. Jahrhundert
Die Schule steht längst nicht mehr nur vor der Aufgabe, Fachinhalte zu vermitteln, sondern Lernende auf eine Welt vorzubereiten, die tief von Digitalisierung und Vernetzung geprägt ist. Der Begriff der Kultur der Digitalität (Stalder, 2016) beschreibt eine Gesellschaft, in der Partizipation, Referentialität und Algorithmizität zentrale Modi des Denkens und Handelns sind. Jugendliche wachsen in dieser Kultur auf – über soziale Medien, Videospiele, digitale Kommunikationsräume. Für die Geographiedidaktik bedeutet das, dass Unterricht nicht nur analoge Karten, Atlanten oder Diagramme einbeziehen darf, sondern auch digitale Räume als Lernräume ernst nehmen muss.
Gleichzeitig verlangt die Diskussion um Future Skills (Kerres, 2020) nach einer schulischen Förderung von Kompetenzen, die über klassisches Fachwissen hinausgehen: kritisches Denken, Problemlösefähigkeit, Kreativität, Kollaboration, digitale Medienkompetenz. Diese Kompetenzen sind nicht additiv zum Fachunterricht, sondern müssen in ihm integriert werden – Geographie bietet durch ihre multiperspektivischen Basiskonzepte dafür ideale Anknüpfungspunkte.
Spielanalyse: Hyrule als digitaler Resonanzraum
Breath of the Wild ist nicht nur eine Fantasiewelt, sondern auch ein Produkt der Kultur der Digitalität:
Partizipation: Spieler*innen gestalten aktiv Karten, Wikis und Fanprojekte. Online entstehen interaktive Karten mit Ressourcenvorkommen, Tutorials oder eigene Kunstwerke. Damit wird das Spiel zu einem partizipativen Projekt, das über die eigentliche Spielwelt hinauswächst.
Referentialität: Inhalte werden ständig zitiert, transformiert und neu kombiniert. Ein Beispiel sind Speedruns, in denen Spieler*innen bekannte Mechaniken kreativ anders nutzen, oder Fan-Theorien, die die Geschichte von Hyrule deuten und erweitern.
Algorithmizität: Die Welt Hyrules funktioniert durch klar definierte, aber komplexe Algorithmen (z. B. Wettersystem, Blutmond-Mechanik, Physik-Engine). Spieler*innen müssen diese Regeln erkennen, um strategisch handeln zu können – eine implizite Schulung im systemischen Denken.
Für Future Skills ist Hyrule ein ideales Lernfeld:
Kollaboration: Spieler*innen tauschen Wissen in Foren und Communities aus, sie helfen sich gegenseitig mit Karten oder Strategien.
Problemlösefähigkeit: Jede Quest, jedes Rätsel und jeder Schrein erfordert analytisches Denken und kreatives Ausprobieren.
Kritisches Denken: Spieler*innen reflektieren, wie Ressourcen genutzt werden, welche Routen sinnvoll sind oder welche Allianzen nötig sind.
Digitale Medienkompetenz: Die Einbindung von Online-Karten, Foren und Tutorials zeigt, wie Wissen heute nicht nur konsumiert, sondern ko-produziert wird.
Didaktische Umsetzung: Aufgabenstellungen im Unterricht
Um die Dimension „Kultur der Digitalität“ und „Future Skills“ in den Geographieunterricht zu integrieren, können Lehrkräfte Aufgaben entwickeln, die digitale Praktiken der Schüler*innen produktiv aufgreifen. Einige Beispiele (mit NRW-Operatoren):
Analysiere anhand einer Fan-Karte von Hyrule, wie digitale Communities durch Partizipation und Kooperation Wissen über die Spielwelt erzeugen. Vergleiche diesen Prozess mit partizipativer Kartographie in der realen Welt (z. B. OpenStreetMap).
Erkläre, wie algorithmische Strukturen im Spiel (z. B. Wettersystem oder Blutmond-Mechanik) das Handeln von Spieler*innen bestimmen. Übertrage diese Erkenntnisse auf reale Beispiele algorithmischer Steuerung (z. B. Navigations-Apps, Wettermodelle).
Bewerte das Potenzial von Breath of the Wild, Future Skills wie Problemlösefähigkeit, Kollaboration und digitale Medienkompetenz im Geographieunterricht zu fördern. Ziehe Beispiele aus deinem eigenen Spielverhalten heran.
Entwickle ein eigenes Unterrichtskonzept, in dem du ein digitales Spiel oder eine App einsetzt, um geographische Basiskonzepte zu vermitteln. Reflektiere dabei Chancen und Grenzen der „Kultur der Digitalität“.
Meta-Kommentar:
Für Lehrkräfte bedeutet die Einbeziehung von Spielen wie Breath of the Wild, dass Geographieunterricht nicht nur Orte, Räume und Prozesse erklärt, sondern auch digitale Lebenswelten der Schüler*innen ernst nimmt. Durch die Verschränkung von Basiskonzepten, Kultur der Digitalität und Future Skills wird der Unterricht dreifach professionalisiert:
Fachlich – Basiskonzepte bleiben der rote Faden, der die geographische Analyse trägt.
Mediendidaktisch – Digitale Spiele und Communities werden als ernsthafte Lernräume erschlossen.
Kompetenzorientiert – Schüler*innen erwerben nicht nur Wissen, sondern auch Schlüsselkompetenzen für eine digitalisierte Welt.
Damit zeigt sich: Geographieunterricht, der Breath of the Wild als Lernlabor nutzt, ist nicht nostalgische Spielerei, sondern ein hochaktueller Ansatz, um das Fach als „Fach des 21. Jahrhunderts“ (Hoffmann, 2019) zu positionieren und Schüler*innen in einer Kultur der Digitalität zukunftsfähig zu machen.
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1. Fachdidaktik / Geographie
Bögeholz, S., & Barkmann, J. (2005). Rational choice and beyond: Handlungsorientierende Kompetenzen für den Umgang mit faktischer und ethischer Komplexität. In R. Klee, A. Sandmann, & H. Vogt (Hrsg.), Lehr- und Lernforschung in der Biologiedidaktik (Bd. 2, S. 211–224). Studienverlag.
Radl, A. (2016). Basiskonzepte im GW-Unterricht – ein Instrument zur Vermittlung globaler Zusammenhänge. GeoGraz, 59, 32–37.
Jackson, P. (2006). Thinking geographically. Geography, 91(3), 199–204. https://doi.org/10.1080/00167487.2006.12094149
Hoffmann, K. W. (2019). Fach des 21. Jahrhunderts, Teil 2: Gute Gründe für die Erdkunde. Westermann Verlag. (Online verfügbar unter https://www.klett.de/alias/1130433)
Fögele, J. (2016). Entwicklung basiskonzeptionellen Verständnisses in geographischen Lehrerfortbildungen [Dissertation]. Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat.
Uphues, R. (2013). Basiskonzepte. In D. Böhn & G. Obermaier (Hrsg.), Wörterbuch der Geographiedidaktik (S. 22–23). Westermann.
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Jekel, T., & Pichler, H. (2017). Vom GW-Unterrichten zum Unterrichten mit geographischen und ökonomischen Konzepten: Zu den neuen Basiskonzepten im österreichischen GW-Lehrplan AHS Sek. II. GW Unterricht, 147(3), 5–15. https://doi.org/10.1553/gw-unterricht147s5 Paris-Lodron-University Salzburg+1
Fridrich, C. (2016). Basiskonzepte in Geographie und Wirtschaftskunde – ein Vorschlag für die Sekundarstufe I. GeoGraz, 59, 24–31.
Sander, W. (2009). Wissen: Basiskonzepte der Politischen Bildung. Informationen zur Politischen Bildung, 30, 57–60.
2. Game Studies / Medienwissenschaft
Aarseth, E. (2001). Computer game studies, year one. Game Studies, 1(1). http://gamestudies.org/0101/editorial.html
Gazzard, A. (2011). Unlocking the gameworld: The keys to designing for player navigation. Game Studies, 11(1). http://gamestudies.org/1101/articles/gazzard
Murray, J. H. (1997). Hamlet on the Holodeck: The future of narrative in cyberspace. MIT Press.
Jenkins, H. (2004). Game design as narrative architecture. In N. Wardrip-Fruin & P. Harrigan (Hrsg.), First person: New media as story, performance, and game (S. 118–130). MIT Press.
Juul, J. (2005). Half-Real: Video games between real rules and fictional worlds. MIT Press.
3. Spiele (Primärquellen)
Nintendo. (2017). The Legend of Zelda: Breath of the Wild [Nintendo Switch]. Nintendo.
Nintendo. (2023). The Legend of Zelda: Tears of the Kingdom [Nintendo Switch]. Nintendo.
Screenshot aus The Legend of Zelda: Breath of the Wild (© Nintendo, 2017), eigene Aufnahme, Nutzung gemäß § 60a UrhG für Unterricht und Lehre.
Macht, Kontrolle und Widerstand – Das Basiskonzept „Macht“ im Geographieunterricht mit Cyberpunk 2077
Alle im Beitrag verwendeten Screenshots stammen aus Cyberpunk 2077 (© CD Projekt Red, 2020). Sie wurden eigens angefertigt und dienen ausschließlich der wissenschaftlichen Illustration, Analyse und fachdidaktischen Reflexion gemäß § 60a UrhG (Unterricht und Lehre).Eine kommerzielle Nutzung, Vervielfältigung oder Weitergabe ist ausgeschlossen.
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Digitale Spiele finden zunehmend Beachtung in der Bildung, doch ihr Einsatz im Fach Geographie steckt noch in den Kinderschuhen. Das Open-World-Videospiel Cyberpunk 2077 bietet Erdkundelehrkräften eine ungewöhnliche Möglichkeit, das Basiskonzept „Macht“ anschaulich zu vermitteln. Anhand der dystopischen Megastadt Night City können Lernende der Sekundarstufe I und II erkunden, wie Macht in Räumen wirkt – von der Deutungsmacht über Räume bis zur Gestaltungsmacht in der physischen Stadtstruktur. Dabei lässt sich der Bogen spannen von aktuellen Bildungsstandards (DGfG, 2024) bis zu theoretischen Grundlagen (Mehren & Dzudzek, 2025). Im Folgenden wird erläutert, wie Cyberpunk 2077 im Unterricht genutzt werden kann, um Machtverhältnisse im Kontext von Urbanität, Digitalisierung und sozialer Kontrolle zu thematisieren. Auch kritische Stimmen zum Basiskonzept „Macht“ (z. B. Gellert, 2024) werden berücksichtigt – und es wird gezeigt, wie diese produktiv im Unterricht aufgegriffen werden können.
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Die Bildungsstandards im Fach Geographie für die Allgemeine Hochschulreife (DGfG, 2024) haben „Macht“ erstmals als eines von sechs Basiskonzepten des Geographieunterrichts verankert. Basiskonzepte dienen als übergeordnete fachliche Leitideen und sollen Schülerinnen und Schülern helfen, komplexe raumbezogene Phänomene besser einzuordnen (DGfG, 2024). Die Aufnahme des Konzepts „Macht“ in den Kanon war im Vorfeld nicht unumstritten und musste fachlich begründet werden (Mehren & Dzudzek, 2025). Warum also „Macht“ im Geographieunterricht?
Zum einen ist Raum oft eine umkämpfte Ressource: Unterschiedliche Akteure stellen konkurrierende Ansprüche an Flächen, und im Ringen um die Nutzung setzen sich manche Interessen durch, während andere marginalisiert werden. Beispielsweise dominieren in der Verkehrsplanung meist lautstarke Interessen von Autofahrenden, während Kinder als Betroffene oft zur „schweigenden Gruppe“ gehören, deren Bedürfnisse kaum Gehör finden (Mehren & Dzudzek, 2025). Zum anderen zeigt ein Blick auf reale Entwicklungen, dass idealistische Leitbilder – etwa einer sozial und ökologisch nachhaltigen Stadtentwicklung – in der Praxis häufig von ökonomischen Machtinteressen überlagert werden (Mehren & Dzudzek, 2025). Im Geographieunterricht entwerfen Lernende zwar Visionen für nachhaltige Räume, doch diese scheitern in der Realität oft an ungleichen Machtverhältnissen. Hier setzt das Basiskonzept „Macht“ an: Es soll Lernende für die Wechselwirkungen zwischen räumlichen Strukturen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen sensibilisieren und sie dazu befähigen, diese kritisch zu hinterfragen (DGfG, 2024, S. 15; Mehren & Dzudzek, 2025). Mit anderen Worten: Geographieschüler*innen sollen erkennen, wie Macht Räume prägt und wie Räume Macht reflektieren.
In der Fachcommunity wird das Basiskonzept “Macht” breit diskutiert. Einigkeit besteht darüber, dass sich daraus zentrale geographische Leitfragen ableiten lassen (Reuber, 2012). So kann im Unterricht zum Beispiel gefragt werden: Welche Interessengruppen beeinflussen die Diskussion über Raumentwicklungen – und welche Stimmen werden kaum gehört? Oder: Mit welchen Mitteln und Narrativen setzen Akteure ihre räumliche Deutung durch, und wo stoßen Gestaltungsansprüche verschiedener Gruppen räumlich aufeinander? (Reuber, 2012). Solche Fragen verdeutlichen, dass Macht in räumlichen Konflikten stets mehrdimensional ist – es geht um Akteurskonstellationen, Legitimation, Ressourcen, Maßstabsebenen und die Folgen für Mensch und Umwelt. Das Basiskonzept “Macht” fordert somit explizit dazu auf, Raum und Macht zusammenzudenken: Wer verfügt über Einfluss in Räumen, wer über Räume, und mit welchen Konsequenzen?
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Konkret unterscheiden die Bildungsstandards zwei Seiten der Macht in räumlichen Kontexten (DGfG, 2024, S. 15; Mehren & Dzudzek, 2025): raumbezogene Deutungsmacht und raumbezogene Gestaltungsmacht. Diese beiden Facetten bieten ein analytisches Doppel, um Machtfragen im Geographieunterricht greifbar zu machen:
Raumbezogene Deutungsmacht beschreibt die Fähigkeit von Akteur*innen, die Wahrnehmung und Interpretation von Räumen zu beeinflussen. Wer Deutungsmacht besitzt, kann bestimmte Narrative oder Bilder eines Ortes durchsetzen – etwa indem Medien oder politische Akteure entscheiden, ob ein Quartier als “problematisch” gilt oder als aufstrebend, ob ein Land als “Schurkenstaat” oder als Opfer dargestellt wird. Ein aktuelles Beispiel dafür war die polemische Bezeichnung ganzer Länder als “shithole countries” durch den US-Präsidenten Trump, womit er den globalen Diskurs über diese Orte geprägt hat (vgl. Mehren & Dzudzek, 2025). Deutungsmacht kann subtile, aber wirkungsvolle Kontrolle ausüben, indem sie festlegt, welche räumlichen Vorstellungen in den Köpfen der Menschen vorherrschen.
Raumbezogene Gestaltungsmacht meint hingegen die Fähigkeit, Räume physisch und strukturell zu formen, zu nutzen oder zu kontrollieren. Dabei geht es um die konkrete Machtausübung am Raum: Wer Gestaltungsmacht innehat, kann z. B. durch Stadtplanung, Investitionen oder Regulierung die Entwicklung eines Ortes maßgeblich bestimmen. Klassische Beispiele sind städtebauliche Projekte oder Infrastrukturmaßnahmen – von der Ausweisung eines Gewerbegebiets bis zur Umgestaltung ganzer Stadtviertel (Mehren & Dzudzek, 2025). Gestaltungsmacht zeigt sich etwa, wenn ein Großkonzern ein Stadtbild durch Hochhäuser prägt oder wenn eine Kommune brachliegende Flächen in Parks oder Shoppingmalls verwandelt. Sie betrifft also die “Macht über den Raum” im materiellen Sinne.
In der Realität greifen Deutungs- und Gestaltungsmacht oft ineinander: Wer die Deutungshoheit über einen Raum besitzt (z. B. durch mediale Narrative), schafft Legitimation für dessen physische Kontrolle – und umgekehrt. Dieses Spannungsfeld wird im Basiskonzept Macht ausdrücklich thematisiert (DGfG, 2024). Es ermöglicht Schüler*innen, Machtprozesse in zwei Dimensionen zu analysieren: Wer definiert, was ein Raum bedeutet, und wer bestimmt, was in diesem Raum geschieht? Diese Unterscheidung ist im Kontext moderner Themen relevant – von Smart Cities (wo z. B. Datenkonzerne mit digitalen Narrativen Einfluss auf Stadtentwicklung nehmen) bis hin zu geopolitischen Konflikten (wo mächtige Staaten Territorien nicht nur militärisch gestalten, sondern auch diskursiv für sich reklamieren).
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In Cyberpunk 2077 wird das Zusammenspiel von Deutungs- und Gestaltungsmacht in einer futuristischen Stadt eindrucksvoll inszeniert. Night City – der Handlungsort des Spiels – ist eine fiktive Megastadt an der US-Westküste im Jahr 2077, geprägt von extremer Urbanität und allgegenwärtiger Digitalisierung. Neonreklamen und Wolkenkratzer multinationaler Konzerne dominieren das Stadtbild, während Kameras, Drohnen und digitale Netzwerke jede Bewegung verfolgen. Die Stadt ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie raumbezogene Macht ausgeübt werden kann: Großkonzerne beherrschen die Skyline und Infrastruktur (Gestaltungsmacht) und kontrollieren über Medien und Werbung die öffentlichen Meinungen und Lebensstile (Deutungsmacht).
Im Spiel werden die Bewohner*innen von Night City pausenlos mit Werbung, Nachrichtenfeeds und Cyber-Technologie konfrontiert, die das Denken und Handeln beeinflussen sollen. Diese permanente Beschallung durch Konzernbotschaften – etwa Werbung für Produktneuheiten oder Sicherheitsdienstleistungen – verdeutlicht die Deutungsmacht der Konzerne: Sie setzen die Themen, definieren Schönheitsideale, schüren Ängste und verkaufen gleichzeitig Lösungen. So perpetuieren die Megafirmen ihre Vorherrschaft und legitimieren ihre Präsenz im Alltag der Menschen (Page x Pixel, 2024). Ein Beispiel ist die fiktive Firma Arasaka, die in der Spielwelt nicht nur Waffen und Sicherheitstechnik anbietet, sondern auch das Narrativ verbreitet, ohne ihre Kontrolle würde Chaos ausbrechen. Solche Narrative verleihen den Konzernen eine Aura von Unentbehrlichkeit und rechtfertigen weitreichende Überwachung – ein zentrales Element sozialer Kontrolle in Night City.
Gleichzeitig spiegelt die Gestaltungsmacht der Konzerne sich in der physischen Stadt wider. Komplett privat betriebene Sicherheitskräfte patrouillieren die Straßenschluchten, während riesige abgeschottete Areale – etwa Firmencampus oder Luxus-Enklaven – nur einer Elite zugänglich sind. Die Stadtplanung folgt primär den Interessen der Wirtschaft: Wohnblöcke ragen als sogenannte “Megabuildings” in den Himmel, um maximale Profite aus der knappen Fläche zu schlagen, wohingegen öffentliche Räume oder sozialer Wohnungsbau vernachlässigt werden. Night Citys soziale Geographie ist dadurch extrem ungleich: Wohlhabende Viertel glänzen mit High-Tech-Überwachung und Komfort, während ärmere Distrikte unter Vernachlässigung und Kriminalität leiden. Diese digitale Kluft und räumliche Segregation machen Machtstrukturen buchstäblich erfahrbar – im Spiel wie in der Wirklichkeit. Lernende erkennen hier, dass Urbanität nicht neutral ist, sondern Ergebnis von Machtentscheidungen: Wer Ressourcen kontrolliert, gestaltet die Stadt nach seinen Vorstellungen.
Interessant ist dabei, wie Cyberpunk 2077 das Spannungsfeld zwischen Deutungs- und Gestaltungsmacht erlebbar macht. Beispielsweise inszeniert das Spiel rivalisierende Gruppierungen (Konzerne, Gangs, städtische Behörden), die um die Vorherrschaft kämpfen. Die Konzerne kontrollieren die Massenmedien und prägen das Stadtimage (Deutungsmacht), während Untergrundnetzwerke oder Bürgerbewegungen versuchen, mit Hacktivismus und Piratenradios alternative Informationen zu verbreiten. Gleichzeitig beherrschen die Konzerne weite Teile der physischen Infrastruktur und setzen mit eigener Polizei ihren Ordnungswillen durch (Gestaltungsmacht), während marginalisierte Gruppen improvisierte Räume der Gegenkultur schaffen (z. B. illegale Clubs oder Basare in den Zwischenräumen der Megastadt). Die Spielerfigur erlebt diesen Gegensatz unmittelbar: Mal bewegt man sich in den glitzernden Konzernbezirken unter den Augen allgegenwärtiger Kameras, mal in autonomen Zonen, wo anarchische Freiheit herrscht, aber auch das Gesetz des Stärkeren gilt. Dadurch wird deutlich, wie Digitalisierung und Urbanität zusammenwirken, um Macht auszuüben: High-Tech-Überwachung und KI-gestützte Datenkontrolle verstärken die soziale Kontrolle, während die dichte Urbanität Möglichkeiten für Überwachung und für das Untertauchen bietet.
All diese Aspekte machen Cyberpunk 2077 zu einem reichhaltigen Fallbeispiel für das Basiskonzept “Macht”. Die fiktive Stadt überzeichnet zwar reale Entwicklungen, bietet aber zahlreiche Anknüpfungspunkte für den Unterricht. So lassen sich Parallelen ziehen zwischen Night City und heutigen Städten: Etwa die Frage nach der Macht von Tech-Konzernen in Smart Cities (vgl. Mehren & Dzudzek, 2025) – hier wie dort stellt sich die Problematik, wie viel Einfluss privatwirtschaftliche Akteure auf städtische Daseinsvorsorge und Datenhoheit haben. Auch Themen wie Überwachung (Stichwort: “smarte” Straßenlaternen mit Kameras, Gesichtserkennung im öffentlichen Raum) oder Gentrifizierung und Ausschluss (Luxusghettos vs. Slums) können anhand der Spielwelt diskutiert werden. Die dystopische Überzeichnung durch das Spiel schafft dabei einen Distanzraum, in dem Schülerinnen und Schüler kritisch über aktuelle Entwicklungen reflektieren können, ohne unmittelbar in politischen Tagesstreit verhaftet zu sein.
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Wie kann man nun dieses Videospiel praktisch im Unterricht einsetzen, ohne den Rahmen des schulischen Lernens zu sprengen? Wichtig ist eine gezielte und altersangemessene Auswahl von Inhalten aus Cyberpunk 2077. Das Spiel ist ab 18 Jahren freigegeben und enthält Gewalt und explizite Darstellungen – daher sollten Lehrkräfte behutsam vorgehen und beispielsweise auf videobasierte Auszüge oder beschreibende Szenarien zurückgreifen, anstatt das Spiel unreflektiert spielen zu lassen. Folgende methodische Ansätze bieten sich an, um die Thematik “Macht in Raum und Gesellschaft” mithilfe des Spiels zu erarbeiten:
Visuelle Raumanalyse: Zeigen Sie der Lerngruppe ausgewählte Bilder oder kurze Video-Sequenzen von Night City (z. B. eine Drohnenansicht der Skyline oder eine Straßenszene in einem reichen vs. armen Viertel). Lassen Sie die Schüler*innen beobachten und beschreiben: Was fällt auf? (z. B. Werbebanner, Sicherheitspräsenz, Bauweise) und Welche Unterschiede zwischen den Vierteln sehen sie? Dies kann in eine Analyse münden, wer hier offenbar Macht ausübt und wie dies am Raum erkennbar wird.
Narrative Kartenarbeit: Stellen Sie den Schüler*innen eine vereinfachte Karte von Night City mit eingezeichneten Distrikten zur Verfügung. Gruppen sollen erarbeiten, was die Kennzeichen der jeweiligen Viertel sind (im Spiel haben z. B. Stadtteile wie “City Center” oder “Pacifica” unterschiedliche sozioökonomische Profile). Anschließend wird diskutiert, wie die Raumaufteilung Macht widerspiegelt: Wo konzentrieren sich die Machtzentren (z. B. Konzernzentralen)? Wo leben die sozial Schwächeren? Wie beeinflussen territoriale Grenzen (z. B. abgesperrte Zonen) die Bewegungsfreiheit? Hier können Bezüge zur realen Stadtgeographie hergestellt werden (Stichwort Gated Communities, Zentralisierung von Entscheidungsmacht).
Szenarien und Rollen: Nutzen Sie die Hintergrundgeschichte des Spiels als Ausgangspunkt für ein Planspiel. Beispielsweise könnten Lernende in Rollen schlüpfen – von der Konzernchefin über einen städtischen Planer bis zum Vertreter einer Bürgerinitiative im Armenviertel – und über ein fiktives Stadtentwicklungsprojekt verhandeln. Ein Szenario könnte lauten: “Ein Konzern will in Night City ein neues Viertel mit Smart-City-Technologie ausstatten – welche Vorteile, Befürchtungen und Machtansprüche ergeben sich?” Die Schüler*innen debattieren aus ihrer Rolle heraus. So erleben sie unmittelbar das Ringen um Deutungs- und Gestaltungsmacht: die einen argumentieren mit Narrativen (Sicherheit, Fortschritt), die anderen mit dem Recht auf Mitbestimmung und Teilhabe.
Diskussion: Utopie vs. Dystopie: Cyberpunk 2077 zeigt eine Zukunft, die in vielen Bereichen dystopisch ist. Lassen Sie die Klasse diskutieren, welche Entwicklungen aus unserer Gegenwart weitergedacht wurden (z. B. Privatisierung öffentlicher Sicherheit, totaler Konsumkapitalismus, Cyberware-Abhängigkeit) und welche Alternativen denkbar wären. Wo hätte man – aus heutiger Sicht – politisch gegensteuern können, um die dystopischen Extreme zu verhindern? Diese Diskussion schärft das Bewusstsein dafür, dass räumliche Entwicklungen nicht schicksalhaft sind, sondern von gesellschaftlichen Entscheidungen und Machtverteilungen abhängen.
All diese Unterrichtsideen zielen darauf ab, Schüler*innen einerseits für die komplexen Machtgefüge in modernen Städten zu sensibilisieren und andererseits ihre Urteilsfähigkeit zu stärken. Gerade im Umgang mit einem fiktionalen Medium wie Cyberpunk 2077 lernen sie, transfergeleitet zu denken: Was ist Fiktion, was Realität? Welche Warnungen enthält die Dystopie für uns und unsere Städte? Solche Reflexionsschleifen fördern die kritische Kompetenz, die auch in den Bildungsstandards gefordert wird (DGfG, 2024). Wenn Lernende erkennen, dass Konzepte wie Deutungs- und Gestaltungsmacht im Spiel wie im realen Leben wirken, haben sie einen wichtigen Schritt zum mündigen Weltverständnis getan.
Kritik am Basiskonzept „Macht“ und produktiver Umgang im Unterricht
Die Einführung des Basiskonzepts “Macht” blieb nicht ohne Widerspruch. So übte Frank Gellert (2024) deutliche Kritik: Aus seiner Sicht operiert das Konzept mit einem fragwürdigen Raumbegriff, der auf poststrukturalistischer Diskursanalyse basiert und damit “die dunkelsten Kapitel” der Sozialgeographie in den Schulunterricht trage (Gellert, 2024). Er warnt, dass ein Fokus auf Diskurse und Machtbeziehungen im Geographieunterricht die Gefahr berge, zur politischen Indoktrination zu werden, da hier kein wertneutraler, herrschaftsfreier Diskurs mehr möglich sei (Gellert, 2024). Mit Verweis auf den Beutelsbacher Konsens – das pädagogische Prinzip, Lernende nicht zu überwältigen oder einseitig zu indoktrinieren – bezeichnet Gellert das Basiskonzept “Macht” sogar als potentiellen “Irrweg” für die geographische Bildung (Gellert, 2024).
Diese Kritik macht deutlich, dass das Thema Macht selbst machtsensibel unterrichtet werden muss. Für Lehrkräfte bedeutet das: Sie sollten kontroverse Positionen wie die von Gellert im Hinterkopf behalten und im Unterricht einen Raum für kritische Meta-Reflexion schaffen. Statt die Perspektive der Diskursmacht unreflektiert zu übernehmen, kann man die Schülerinnen aktiv mit der Kritik am Konzept konfrontieren – natürlich altersgerecht aufbereitet. So könnte man beispielsweise Auszüge aus Gellerts Argumentation (vereinfacht) präsentieren und die Lernenden fragen: “Warum könnte jemand Bedenken haben, Macht im Geographieunterricht zu thematisieren? Wie stehen wir selbst dazu?” Durch eine solche Diskussion wird den Schülerinnen bewusst, dass Bildungsinhalte nicht neutral sind, sondern Gegenstand von Debatten. Das eröffnet die Möglichkeit, Demokratiebildung im Kleinen zu praktizieren: Die Klasse übt, unterschiedliche Meinungen auszuhalten und abzuwägen.
Wichtig ist in diesem Kontext, den konstruktiven Kern der Kritik herauszuarbeiten. Gellerts Anliegen – die politische Neutralität des Unterrichts zu bewahren – kann im Unterricht produktiv aufgegriffen werden, indem Lehrkräfte darauf achten, Machtanalysen nicht einseitig ideologisch zu füllen. Zum Beispiel sollte man Machtverhältnisse in Raumkonflikten sachlich und multiperspektivisch beleuchten: Welche Fakten sprechen für eine machtkritische Interpretation, wo gibt es aber auch Gegenpositionen? Ein reflektierter Unterricht nach dem Basiskonzept “Macht” indoktriniert nicht, sondern fördert Mündigkeit – genau indem er auch die methodische Herangehensweise transparent macht. Hier kann man auch darauf hinweisen, dass Geographie als Wissenschaft verschiedene Theoriestränge hat: von kritisch-poststrukturalistischen Ansätzen bis hin zu eher positivistisch-verhaltenstheoretischen. Diese Pluralität darf sich im Unterricht widerspiegeln.
Nicht zuletzt bietet die Debatte um das Basiskonzept selbst eine Gelegenheit, um Machtfragen im Bildungsbereich anzusprechen: Wer definiert eigentlich, was in Lehrplänen steht? Welche Rolle spielen wissenschaftliche Beiräte, Ministerien oder Verbände (wie die DGfG) dabei – und welche Macht haben Lehrkräfte, solche Vorgaben zu interpretieren? Eine Meta-Diskussion hierüber kann den Lernenden zeigen, dass Macht auch das eigene Lernen und die Schule durchzieht (Stichwort: Macht der Definition über Wissensinhalte). Auf diese Weise wird Gellerts Kritik zum Ausgangspunkt für eine selbstreflexive Unterrichtseinheit: Die Schülerinnen und Schüler analysieren nicht nur Macht in fernen Megastädten oder Staaten, sondern begreifen, dass auch das, was sie im Klassenzimmer lernen, Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse ist.
Fazit: Chancen und Ausblick
Macht als Basiskonzept eröffnet in der Geographiedidaktik neue Horizonte. Das Videospiel Cyberpunk 2077 mag auf den ersten Blick ein ungewöhnlicher Unterrichtsgegenstand sein, doch es vermag abstrakte Machtbeziehungen anhand einer fesselnden Spielwelt greifbar zu machen. Wichtig ist dabei die fachliche Einbettung: Die Lehrkraft fungiert als Vermittler, der die Brücke schlägt zwischen der Science-Fiction-Stadt Night City und den realen geografischen Strukturen und Prozessen. Gelingt dies, profitieren die Lernenden doppelt – kognitiv durch ein tieferes Verständnis räumlicher Machtgefüge und affektiv durch die Motivationskraft einer popkulturellen Referenz.
Der sachliche, professionelle Umgangston im Unterricht bleibt dabei entscheidend. Cyberpunk 2077 sollte nicht als bloßer Entertainment-Happen missverstanden werden, sondern als Impulsgeber für kritisches Denken. Werden die offiziellen Bildungsstandards und theoretischen Fundierungen (DGfG, 2024; Mehren & Dzudzek, 2025) einbezogen, kann ein solches Unterrichtsprojekt Anschluss an die Fachcommunity finden und zeigen, dass Geographieunterricht zeitgemäße Wege beschreiten kann. Die Reflexion über Macht in Raum und Gesellschaft – ob in der realen Welt oder im virtuellen Night City – befähigt Schülerinnen und Schüler letztlich dazu, ihre Umwelt bewusster wahrzunehmen und verantwortungsvoll mitzugestalten. Im besten Fall verlassen sie den Unterricht mit der Erkenntnis: Die Zukunft unserer Städte und Räume ist kein Schicksal – sie wird gemacht. Und wer sie macht, hängt davon ab, wessen Stimme Gehör findet und wessen Interessen durchgesetzt werden.
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Deutsche Gesellschaft für Geographie (DGfG). (2024). Bildungsstandards im Fach Geographie für die Allgemeine Hochschulreife. Köln: Selbstverlag.
Gellert, F. (2024, 24. September). Ein paar kritische Anmerkungen zum Basiskonzept „Macht“ in den Bildungsstandards SII. Verfügbar unter: https://www.vdsg.de/aktuelles/ein-paar-kritische-anmerkungen-zum-basiskonzept-macht-in-den-bildungsstandards-sii-von-frank-gellert/ (abgerufen am 06.10.2025).
Mehren, R., & Dzudzek, I. (2025). Eine Einführung in das Basiskonzept Macht. Praxis Geographie, 55(3), 52–55.
Page x Pixel. (2024, 26. Dezember). The Cost of Progress: Cyberpunk 2077’s Take on Technological Dependence and Corporate Exploitation. Verfügbar unter: https://pagexpixel.com/2024/12/26/the-cost-of-progress-cyberpunk-2077s-take-on-technological-dependence-and-corporate-exploitation/ (abgerufen am 06.10.2025).
Reuber, P. (2012). Politische Geographie: Handlungsorientierte Einführungen in die Geographie. Paderborn: Schöningh.
Reflexive Kartenkompetenz im Geographieunterricht – Lernen mit Pokémon GO
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Karten gehören seit jeher zu den zentralen Medien geographischer Bildung. Sie ermöglichen es, raumbezogene Sachverhalte zu visualisieren, Strukturen zu erkennen und räumliche Beziehungen zu verstehen. Gleichzeitig gilt: „Karten sind keine neutralen Abbilder, sondern stets Konstruktionen“ (Hemmer & Ulmrich, 2024, S. 13).
Diese doppelte Rolle – Karte als Erkenntnismittel und Karte als gesellschaftliche Konstruktion – macht ihre didaktische Relevanz aus.Nach Hemmer et al. (2010) umfasst Kartenkompetenz drei Teilbereiche:
Kartenauswertungskompetenz – Karten lesen, interpretieren und kritisch prüfen.
Kartenerstellungskompetenz – Karten selbst konstruieren, gestalten und mit Daten verknüpfen.
Reflexive Kartenkompetenz – Karten als soziale, kulturelle und politische Konstruktionen verstehen.
Gerade die reflexive Dimension wird in der aktuellen Geographiedidaktik als Schlüsselfähigkeit angesehen. Sie befähigt Schüler*innen dazu, Karten „nicht nur zu nutzen, sondern auch zu hinterfragen“ (Hüttermann & Ulmrich, 2023, S. 7). Karten werden so zu Medien, die sowohl Orientierung als auch Kritik ermöglichen – ein zentrales Anliegen einer zeitgemäßen Bildung im Zeitalter der Digitalität.
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Das Augmented-Reality-Spiel Pokémon GO (Niantic, 2016) bietet eine außergewöhnliche Gelegenheit, Kartenkompetenz praktisch und reflexiv zu fördern.
Die Spielkarte basiert auf realen Geodaten, die durch Nutzer*innen erzeugt, durch Algorithmen verarbeitet und durch kommerzielle Interessen gefiltert werden. Auf der Oberfläche erscheint eine vertraute Weltkarte – Straßen, Parks, öffentliche Gebäude – überlagert mit virtuellen Elementen: PokéStops, Arenen, Pokémon.Diese hybride Kartendarstellung vereint physische Bewegung mit digitaler Orientierung. Spieler*innen müssen reale Wege gehen, um virtuelle Ziele zu erreichen. So wird die Karte zugleich Handlungsraum, Interface und Repräsentation.
Gerade dadurch wird sichtbar, was Gryl (2014) als „reflexive Kartenarbeit“ bezeichnet: das bewusste Auseinandersetzen mit den Bedingungen, Absichten und Konsequenzen kartographischer Darstellungen.Pokémon GO kann im Unterricht genutzt werden, um zentrale Fragen der Kartenkompetenz erfahrbar zu machen:
Wer entscheidet, was auf der Karte sichtbar ist?
Die Auswahl der PokéStops beruht auf einer community-basierten Datenbank (Ingress), die vor allem Orte in urbanen und touristischen Regionen enthält. Ländliche Räume sind dadurch digital unterrepräsentiert – ein Beispiel struktureller Sichtbarkeitsungleichheit.Welche Interessen stecken hinter der Kartierung?
Niantic arbeitet mit kommerziellen Partnern zusammen; bestimmte Orte (z. B. Geschäfte oder Cafés) werden gezielt als Spielpunkte markiert. Karten erscheinen damit als ökonomisch aufgeladene Räume.Wie wird Raum erlebt und angeeignet?
Spieler*innen bewegen sich aktiv durch ihren Stadtteil, rekonstruieren dabei ihre mentale Karte und reflektieren, welche Orte für sie Bedeutung haben. Das Spiel wird zur performativen Raumaneignung.
Solche Fragestellungen eröffnen einen didaktischen Mehrwert: Schüler*innen erkennen, dass Karten nicht nur etwas zeigen, sondern etwas bewirken. Sie steuern Wahrnehmung, Handlung und Wertzuschreibung.
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Die Fachdebatte der letzten Jahre betont, dass Kartenarbeit im Unterricht zu oft auf die Ebene des Lesens und Entzifferns beschränkt bleibt (Herzig, 2012).
Reflexive Kartenkompetenz hingegen verlangt, Karten als „soziale und kulturelle Produkte“ zu verstehen (Wardenga, 2012). Dazu gehört, Karten zu dekonstruieren: Wer hat sie erstellt? Welche Daten fehlen? Welche Perspektive wird dominant?Pokémon GO eignet sich hervorragend, um diese Fragen praktisch erfahrbar zu machen. Die Spielkarte zeigt eine selektive, interessengeleitete Abbildung der realen Umwelt. Schüler*innen können:
Unterschiede zwischen der Spielkarte und topographischen Karten vergleichen,
untersuchen, welche Orte auf der Spielkarte sichtbar oder unsichtbar sind,
reflektieren, welche sozialen Gruppen Zugang zu diesen Räumen haben.
Dabei werden Machtaspekte geographischer Repräsentation sichtbar.
Wie Hemmer & Ulmrich (2024) betonen, soll Kartenarbeit „nicht nur Faktenwissen fördern, sondern zu einem kritischen, handlungsorientierten Umgang mit Raum und Information befähigen“ (S. 14).Das schließt ein, dass Schülerinnen Karten selbst gestalten und bewusst alternative Sichtweisen eintragen – etwa im Sinne partizipativer Kartographie oder Counter-Mapping. In Verbindung mit Pokémon GO kann das heißen:
Schülerinnen kartieren Orte, die für sie Bedeutung haben, aber im Spiel fehlen – Jugendzentren, ökologische Initiativen, Gedenkorte.
So wird Kartenarbeit zu einem Akt gesellschaftlicher Teilhabe. -
Die nachfolgenden Aufgaben wurden für die Sekundarstufe I und II entwickelt und greifen die drei Kompetenzdimensionen nach Hemmer et al. (2010) auf. Sie sind praxisnah, curricular anschlussfähig und gendergerecht formuliert.
Aufgabe 1: Karten lesen und beschreiben
Operatoren: beschreibe, analysiere
Beschreibe die Verteilung der PokéStops und Arenen in deinem Stadtteil. Analysiere, welche Orte besonders häufig vorkommen und welche fehlen.
Ziel: Förderung der Kartenauswertungskompetenz; Erkennen räumlicher Muster und Auswahlprozesse.
Aufgabe 2: Eigene Karten konstruieren
Operatoren: erstelle, vergleiche
Erstelle mithilfe eines Online-Kartentools (z. B. uMap, Google My Maps oder OpenStreetMap) eine eigene Karte deiner Umgebung. Trage Orte ein, die dir wichtig sind. Vergleiche deine Karte mit der Spielkarte von Pokémon GO und erläutere Unterschiede.
Ziel: Förderung der Kartenerstellungskompetenz; Reflexion subjektiver Bedeutungszuschreibungen.
Aufgabe 3: Karten kritisch hinterfragen
Operatoren: erkläre, beurteile
Erkläre, wie kommerzielle und algorithmische Entscheidungen beeinflussen, welche Orte im Spiel sichtbar sind. Beurteile, ob diese Form der digitalen Kartierung gerecht ist – z. B. für Menschen in ländlichen Regionen oder mit eingeschränkter Mobilität.
Ziel: Entwicklung reflexiver Kartenkompetenz; Sensibilisierung für Macht und Repräsentation.
Aufgabe 4: Counter-Mapping
Operatoren: entwickle, gestalte, präsentiere
Entwickle mit deiner Gruppe eine alternative Karte eurer Stadt, in der ihr Orte sichtbar macht, die sonst übersehen werden. Präsentiert euer Ergebnis und begründet eure Auswahl.
Ziel: Förderung partizipativer und kritischer Raumaneignung; Anwendung der Kartenkompetenz auf gesellschaftliche Fragen.
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Für Lehrer*innen stellt die Auseinandersetzung mit digitalen Geomedien wie Pokémon GO weit mehr dar als einen spielerischen oder motivationalen Zusatz zum Unterricht. Sie eröffnet eine grundlegende Möglichkeit, Kartenarbeit als reflexive Kulturtechnik zu verstehen – also als eine Fähigkeit, Raumrepräsentationen nicht nur zu nutzen, sondern in ihren Entstehungsbedingungen, Machtwirkungen und gesellschaftlichen Konsequenzen kritisch zu analysieren. Karten sind im 21. Jahrhundert längst nicht mehr bloß visuelle Hilfsmittel der Orientierung, sondern Teil einer umfassenden Infrastruktur digitaler Datenproduktion, algorithmischer Steuerung und sozialer Interaktion. Wer mit Karten arbeitet, arbeitet immer auch mit Weltbildern, die durch technische Systeme, ökonomische Interessen und kulturelle Deutungsmuster geprägt sind. Diese Einsicht markiert den Kern einer professionellen geographischen Bildungspraxis in der Gegenwart.
Die Integration digitaler Geomedien in den Unterricht verlangt von Lehrer*innen ein erweitertes professionelles Selbstverständnis, das die drei zentralen Dimensionen geographischer Kompetenz – Fachwissen, fachdidaktisches Wissen und pädagogische Handlungskompetenz – eng miteinander verknüpft. Wie Hemmer und Ulmrich (2024) betonen, ist Professionalisierung heute ohne digitale Kartenarbeit nicht mehr denkbar: Lehrer*innen müssen in der Lage sein, „digitale Geomedien didaktisch zu integrieren und ihre Konstruktionslogik transparent zu machen“ (S. 15). Das bedeutet konkret, dass Karten nicht mehr nur als Materialien vermittelt werden, sondern selbst Gegenstand der Reflexion sind. Der Unterricht muss aufzeigen, dass jede Karte – ob topographisch, thematisch oder digital-interaktiv – das Ergebnis von Entscheidungen über Auswahl, Maßstab, Datenquellen und Darstellungsformen ist.
Kartenkompetenz als Schlüssel professionellen Handelns
Im Rahmen der Professionalisierung wird Kartenkompetenz damit zu einer Schlüsselkompetenz für Lehrer*innen. Diese umfasst nicht nur die Fähigkeit, Karten richtig zu lesen oder didaktisch aufzubereiten, sondern vor allem, ihre epistemische Struktur zu verstehen: Was gilt in der jeweiligen Karte als „Wirklichkeit“? Welche Perspektive wird dominant? Welche Daten fehlen – und warum? Diese Fragen markieren die Schwelle von einer instrumentellen zu einer reflexiven Kompetenz. Lehrer*innen, die diese Schwelle überschreiten, agieren nicht mehr als bloße Wissensvermittler*innen, sondern als kritische Moderatorinnen raumbezogener Erkenntnisprozesse.
Gerade in einer zunehmend digitalisierten Lernwelt, in der Schüler*innen täglich mit Karten aus Google Maps, Apple Maps, Instagram oder Spielen wie Pokémon GO interagieren, wird diese Reflexionskompetenz zur pädagogischen Notwendigkeit. Professionelle Lehrer*innenbildung muss daher die Fähigkeit fördern, Kartenarbeit als Schnittstelle zwischen Fachwissenschaft, Medienbildung und politischer Bildung zu verstehen.
Bewegung, Raumwahrnehmung und Datenkritik als Lernachsen
Die Stärke von Pokémon GO liegt darin, dass es drei zentrale Lernachsen der reflexiven Kartenkompetenz in einzigartiger Weise zusammenführt: Bewegung, Raumwahrnehmung und Datenkritik.
Bewegung – Spieler*innen verlassen den Klassenraum, sie bewegen sich physisch im Raum, sie erfahren Entfernungen, Richtungen und Geländestrukturen leiblich. Diese „verkörperte Geographie“ (embodied geography) macht den Raum nicht nur zu einem Denk-, sondern zu einem Handlungskontext. Lehrerinnen können diese Erfahrung didaktisch rahmen, indem sie Exkursionen oder Kartenerkundungen an die Spielmechanik koppeln: Schüler*innen sammeln Daten zu den realen Orten der PokéStops, notieren Nutzungstypen und reflektieren, welche sozialen Gruppen diese Orte frequentieren.
Raumwahrnehmung – Das Spiel fordert von den Spielerinnen eine kontinuierliche Orientierung zwischen digitaler und realer Umwelt. Lehrer*innen können dies aufgreifen, um den Zusammenhang von Wahrnehmung, Orientierung und Raumkonstruktion bewusst zu machen. Kartenarbeit wird dadurch zu einer Reflexionsarbeit über Raumaneignung: Wie verändert sich meine Wahrnehmung meines Stadtviertels durch das Spiel? Welche Orte erscheinen plötzlich wichtig, welche verschwinden aus dem Bewusstsein?
Datenkritik – Jede im Spiel sichtbare Karte basiert auf algorithmischen Auswahlprozessen. Diese algorithmische Selektion kann im Unterricht analysiert werden: Warum erscheinen in ländlichen Gebieten weniger PokéStops? Welche Datenquellen nutzt Niantic? Wie wirken kommerzielle Partnerschaften auf die Kartendarstellung? Solche Analysen fördern nicht nur Medienkompetenz, sondern auch ein kritisches Bewusstsein für die Macht digitaler Infrastrukturen über raumbezogene Wahrnehmung.
Lehrer*innen, die diese drei Lernachsen gezielt miteinander verbinden, fördern eine reflexive Handlungskompetenz, die über das Fach Geographie hinausreicht: Sie befähigen Schülerinnen, digitale Räume kritisch zu deuten, sich sicher in hybriden Welten zu bewegen und eigene Perspektiven auf Raum und Gesellschaft zu entwickeln.
Kartenarbeit als Beitrag zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)
Die Verbindung von Pokémon GO und Kartenarbeit erlaubt es, zentrale Ziele der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und der KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ konkret umzusetzen. Durch die aktive Auseinandersetzung mit Karten lernen Schüler*innen, wie Wissen über Raum entsteht und welche Verantwortung mit der Nutzung von Daten verbunden ist. Reflexive Kartenarbeit macht sichtbar, dass Nachhaltigkeit nicht nur eine ökologische, sondern auch eine epistemische Kategorie ist: Nachhaltig ist Bildung dann, wenn sie Lernende befähigt, Informationen kritisch zu bewerten und Handlungskonsequenzen zu ziehen.
Wenn Lehrer*innen die Lernenden dazu anregen, digitale Karten als Produkte gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu begreifen, dann wird Kartenarbeit zugleich zu politischer Bildung. Schülerinnen reflektieren Fragen wie: Wer hat Zugang zu räumlicher Information? Wem gehören die Daten? Welche Räume sind sichtbar, welche bleiben unsichtbar?
In diesem Sinne werden Karten zu Werkzeugen demokratischer Urteilsbildung und digitaler Selbstbestimmung.Professionalisierung als kontinuierlicher Reflexionsprozess
Professionalisierung in der Geographiedidaktik bedeutet nicht nur, neue Tools kennenzulernen, sondern ein dauerhaftes reflexives Bewusstsein über das eigene pädagogische Handeln zu entwickeln. Lehrer*innen müssen sich fragen: Wie gehe ich selbst mit Karten um? Welche Perspektiven bringe ich in meine Unterrichtsplanung ein? Welche Karten verwende ich, und warum? Durch diese Selbstreflexion entsteht eine Meta-Kompetenz, die es erlaubt, Kartenarbeit als Spiegel der eigenen Fachidentität zu begreifen.
Im Kontext von Pokémon GO kann dies bedeuten, dass Lehrerinnen ihre eigene Nutzungserfahrung reflektieren: Wie verändere ich selbst meine Bewegung durch den Stadtraum, wenn ich der Spielkarte folge? Welche Orte erscheinen mir plötzlich interessant oder irrelevant? Solche Selbstbeobachtungen fördern Empathie gegenüber den Lernprozessen der Schüler*innen und helfen, Unterrichtssituationen gezielter zu gestalten.
Professionalisierung heißt damit letztlich, sich der eigenen Verantwortung als Vermittlerin raumbezogener Weltbilder bewusst zu werden. Digitale Karten sind nicht neutral – sie prägen, was wir sehen, und was wir übersehen. Lehrer*innen, die dies verstehen und thematisieren, tragen dazu bei, dass geographische Bildung im digitalen Zeitalter zu einer kritischen Weltaneignung wird.
Die Kombination aus Bewegung, Raumwahrnehmung und Datenkritik erlaubt, zentrale Bildungsziele der BNE und der KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ umzusetzen.
Lehrer*innen können so Schüler*innen befähigen, Raum nicht nur zu nutzen, sondern kritisch zu gestalten. -
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Alle in diesem Beitrag verwendeten Screenshots sind eigene Aufnahmen aus Pokémon GO (© Niantic, 2016).
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